Montag, 12. September 2022

Leid und Trost

 XXIII.

     Warum sind denn die Rosen so blaß,

O sprich, mein Lieb, warum?
Warum sind denn im grünen Gras
Die blauen Veilchen so stumm?

5

     Warum singt denn mit so kläglichem Laut

Die Lerche in der Luft?
Warum steigt denn aus dem Balsamkraut
Hervor ein Leichenduft?

     Warum scheint denn die Sonn’ auf die Au’

10

So kalt und verdrießlich herab?

Warum ist denn die Erde so grau
Und öde wie ein Grab?

     Warum bin ich selbst so krank und so trüb’,
Mein liebes Liebchen, sprich?

15

O sprich, mein herzallerliebstes Lieb,

Warum verließest du mich?

(Heinrich Heine: Buch der Lieder)



Was einen im Alter angreift: Müdigkeit, Schwäche, Schmerzen, ...


Das gab es schon in der Jugend bei Verlusten. Unsere vierjährige Enkelin Mia muss ihre Freundinnen und ihren sechsjährigen Freund verlassen, weil ihre Eltern in die Großstadt Karlsruhe ziehen.

Unser Sohn Martin verlor sein Schmusetier, als er es einmal in der Schule mitnahm. Auf einem Schulbazar sahen wir Eltern es wieder und kauften es zurück. Jetzt ist er 46 Jahre alt und hat es über 40 Jahre lang wieder.

In der Kindheit hat jeder Schmerz fast Ewigkeitswert, aber er ist zum Glück meist bald vorbei.

Heine hat diesen Trost, den wir den Jungen zu geben versucht sind, auch gleich formuliert.


Das Fräulein stand am Meere

Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.

Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.


Als Lied klang der "Trost" so:


Otto Reutter (1870-1931)


In fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Denk stets, wenn etwas dir nicht gefällt:
"Es währt nichts ewig auf dieser Welt!"
Der kleinste Ärger, die größte Qual
Sind nicht von Dauer, sie enden mal!
Drum sei dein Trost, was immer es sei:
"In fünfzig Jahren ist alles vorbei!"

Und ist alles teuer, dann murre nicht
Und holt man die Steuer, dann knurre nicht
Und nimmt man dir Alles, dann klage nicht
Und kriegst du 'n Dalles, verzage nicht –
Nur der, der nichts hat, ist glücklich und frei
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Und geht zu 'nem Andern dein Mägdelein
Dann schick' ihr noch's Reisegeld hinterdrein
Und bist du traurig, denk in der Pein:
"Wie traurig wird bald der Andere sein!"
Dem macht sie's wie dir — die bleibt nicht treu
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und siehst du 'ne Zeitung, dann schau nicht hin
Es steht ja doch bloß was Schlechtes drin!
Und schafft dir die Politik Verdruss:
Es kommt ja doch alles, wie's kommen muss!
Heut' haben wir die, morgen jene Partei
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und stehst du nervös an 'nem Telefon
Und du stehst und verstehst da nicht einen Ton
Oder bist beim Zahnarzt – wenn er dich greift
Und dich mit dem Zahn durch die Zimmer schleift
Und er zieht und er zieht und bricht alles entzwei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Und platzt dir ein Knopf – am Hemd zumeist –
Und hast du ein Schuhband, das stets zerreißt
Und hast'ne Zigarre du, die nicht zieht
Und hast du ein Streichholz, das gar nicht glüht:
Nimm noch 'ne Schachtel, nimm zwei oder drei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Und fälscht man dir Schokolade und Tee
Und verspricht man dir echten Bohnen-Kaffee
Und du merkst, dass der Kaffee – wie schauderbar! –
Eine bohnen-lose Gemeinheit war
Dann schließ die Augen und sauf den Brei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und sitzt in der Bahn du ganz eingezwängt
Und dir wird noch 'ne Frau auf'n Schoß gedrängt
Und die hat noch 'ne Schachtel auf ihrem Schoß
Und du wirst die beiden Schachteln nicht los
Und die Füße werden dir schwer wie Blei –
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!

Und bist du ein Eh'mann und kommst nach Haus
Halb drei in der Nacht und se schimpft dich aus
Dann schmeiß dich ins Bette und sag: "Verzeih!
Wär' ich zu Hause geblieben, wär's ooch halb drei!"
Und kehr ihr den Rücken und denk: „Nu schrei!
Äh, in fünfzig Jahren ist alles vorbei!"

Und fürchte dich nie, ist der Tod auch nah –
Je mehr du ihn fürcht'st, um so eh'r ist er da!
Vorm Tode sich fürchten, hat keinen Zweck –
Man erlebt'n ja nicht, wenn er kommt, ist man weg!
Und schließlich kommen wir all' an die Reih'
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei!


Drum:
Hast du noch Wein, dann trink ihn aus
Und hast du ein Mädel, dann bring's nach Haus!
Und freu dich hier unten beim Erdenlicht –
Wie's unten ist, weißt du – wie oben nicht!
Nur einmal blüht im Jahre der Mai
Und in fünfzig Jahren ist alles vorbei –
Du Rindvieh, dann isses vorbei!


Otto Reutter entwickelte sich bald zu einem gefragten Sänger. Ab 1915, im Ersten Weltkrieg, gab er im angemieteten Palasttheater am Zoo in Berlin sogenannte Kriegsrevuen. Ab Ende 1916 sang er dann auch Lieder, in denen das Geschehen und die allgemeine Meinung teilweise eher kritisch als humorvoll dargestellt wurde. So erzählt das Lied Ich möcht’ erwachen beim Sonnenschein eher melancholisch, teilweise sogar sehr traurig über die allgemeine Stimmung in der Nachkriegszeit. Reutter beklagte den Verlust seines Sohnes Otto Reutter jun. (geb. 1896) in der Schlacht um Verdun im Mai 1916.

In den 1920er Jahren trat Otto Reutter mit seinen Couplets vor allem im Wintergarten auf. Aus dieser Zeit sind einige Couplets wie In fünfzig Jahren ist alles vorbei noch heute bekannt. Kurt Tucholsky beschrieb im Januar 1921 einen Auftritt Reutters:[3]

Die Pointen fallen ganz leise, wie Schnee bei Windstille an einem stillen Winterabend. (...) Alles geht aus dem leichtesten Handgelenk, er schwitzt nicht, er brüllt nicht, er haucht seine Spitzen in die Luft, und alles liegt auf dem Bauch.


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